Zum Vortrag: Israelische Sicherheitspolitik – Warum sie auch unter einer anderen Regierung nicht grundsätzlich anders sein kann

Gemeinsam mit der Reinhold-Maier-Stiftung organisierte die DIG Region Stuttgart im Haus der Wirtschaft den mit rund 120 Zuhörern gut besuchten Vortrag von Prof. Dan Schueftan – und damit die vorerst letzte Präsenzveranstaltung vor dem Lockdown. Schueftan, der Direktor des Studienzentrums für Nationale Sicherheit an der Universität Haifa und Dozent an der Akademie der Israelischen Streifkräfte ist und Berater des Israelischen Nationalen Sicherheitsrats war, gelang es durch seine kluge und humorvolle Art, die Aufmerksamkeit der Zuhörer für seinen hochinformativen und zugleich kurzweiligen Vortrag zu gewinnen.

Gleich zu Anfang stellte der Referent klar, dass die Nationalsicherheit Israels weitaus mehr umfasst als nur Militär, Politik und Wirtschaft. Will man über die Erfolge und Misserfolge Israels sprechen, muss man auch die historische Perspektive beachten: Was wurde in den letzten 140 Jahren – von dem Moment an, als die Juden als zionistisches Kollektiv heimkehrten – erreicht? Zwischen König David und Ben Gurion liegen Jahrtausende – und wenn Menschen so lange nicht in ihrer Heimat leben, geschieht etwas. „Wir sind noch kein Volk“ hatte Ben Gurion einst gesagt und tatsächlich hatten die Juden aus aller Welt am Anfang nicht mehr gemeinsam als dasselbe Gebetbuch und das Gedächtnis an Jahrtausende der Vergangenheit. Die Juden aus Europa und die aus den arabischen Staaten hatten wenig miteinander zu tun und die Mehrheit kam nicht aus zionistischer Überzeugung, sondern weil sie nirgendwo anders hinkonnten und lieber nach Amerika ausgewandert wären. Fragte man Juden in den 30er Jahren „Kommen Sie aus Überzeugung?“ war die Antwort oft „Nein, aus Deutschland“. Bei der Aufgabe, ein funktionierendes und solidarisches Volk entstehen zu lassen, kam ausgerechnet der Armee eine wichtige Rolle zu. Oder wie Dan Schueftan es scherzhaft formulierte: „Allen anderen erzählen wir, dass wir ein großes und starkes Militär brauchen, um unsere Feinde abzuschrecken, aber eigentlich hat das israelische Militär eine soziologische Aufgabe“. Nämlich die Gelegenheit für junge Leute, sich kennenzulernen und zu vermischen, so dass heute viele Israelis gar nicht mehr genau wissen, ob sie nun orientalische oder westliche Wurzeln haben. Und das ist eigentlich der größte Erfolg Israels: eine Solidarität in der Gesellschaft, die man sich früher so nicht einmal erhoffen konnte.

Der zweite Punkt betrifft das Verhältnis Israels zu den anderen Juden in der Welt. Vor dem Holocaust lag der Schwerpunkt des jüdischen Lebens in Europa. Danach war es zunächst Amerika – aber einige Zionisten meinten, auch das wäre letztlich nur ein Exil und irgendwann würde Israel das Zentrum jüdischen Lebens sein. Natürlich kann man als Jude in der ganzen Welt leben – aber das jüdische Kollektiv gibt es eben nur in Israel. Und tatsächlich hat die Demographie inzwischen dafür gesorgt, dass Israel heute das Zentrum der jüdischen Welt ist. Und noch etwas hat sich geändert. Vor 50 Jahren war Israel arm – eigentlich Teil der Dritten Welt – und was man brauchte, schnorrte man vom „reichen Onkel aus Amerika“. Dass Israel heute auf wissenschaftlicher und technologischer Ebene eine Großmacht ist, die weltweit Anerkennung genießt, verdankt es seiner erfolgreichen Anpassung an das 21. Jahrhundert, die ihm besser gelungen ist als den USA. Viele Länder wissen heute, dass sie von Israel lernen können, wie man erfolgreich wird – und das trotz Boykott und Krieg.

Dan Schueftan hob hervor, dass die beiden genannten Erfolge bereits errungen sind, während man um den dritten jeden Tag aufs Neue kämpfen muss, damit er auch in der Zukunft funktioniert. Es gibt in der Geschichte keinen anderen Staat wie Israel, in dem eine offene, demokratische Gesellschaft seit 140 Jahren fortwährend mit Krieg konfrontiert wird; in dem über Generationen hinweg gekämpft werden muss. Wie schafft man das, offen, demokratisch und pluralistisch zu bleiben und gleichzeitig hart und stark genug zu sein, um immer wieder einen Krieg zu gewinnen? Im Gegensatz zu seinen Feinden kann Israel es sich ja nicht leisten, auch nur einen einzigen Krieg zu verlieren. Wie kann man im Inneren ein „Athen“ und nach außen hin ein „Sparta“ sein, so dass man Kriege gewinnt oder durch Abschreckung vermeidet? Wie ein Land aussieht, wenn es innen und außen Sparta ist, sehen wir bei den arabischen Ländern – aber wer wollte einen solchen Staat haben? Europa zeigt das gegenteilige Modell: wunderbar demokratisch nach innen, aber niemand nimmt Europa ernst, weil es sich nicht verteidigen kann. Wäre Israel wie Europa, würde es schon nicht mehr existieren, denn „nett sein“ funktioniert im Nahen Osten nun mal nicht. Die arabischen Staaten kennen keinen kollektiven Pluralismus, keine Demokratie und keine Hoffnung, weil sie in den letzten 100 Jahren praktisch nichts getan haben, um ihre eigenen Gesellschaften zu bauen. Das liegt nicht an den Menschen selbst – es gibt viele, die es gerne anders hätten und viele versuchen, außerhalb der arabischen Welt einen Platz zu finden, weil sie wissen, dass ihre Kinder sonst keine Zukunft hätten. Aber die haben leider keinen Einfluss auf ihre Gesellschaften. Und der Nahe Osten ist sehr, sehr gewalttätig. Viele waren schockiert über die Taten des IS, aber das ist ja im Grunde nur die theatralische Version dessen, was in der arabischen Welt ohnehin geschieht. Solche Dinge tun Araber einander an, und das hat weder mit Israel noch mit den USA etwas zu tun. Und mittendrin liegt Israel und hofft auf Frieden. Das zeigt, dass die Israelis einen herrlichen Humor haben, denn diese Hoffnung ist der Glaube daran, dass die Araber mit den Israelis besser umgehen als mit ihren eigenen Brüdern, wenn irgendjemand einen Vertrag unterzeichnet. In Europa nennt man diese Phantasie „Frieden in Nahost“. Schueftan bezeichnete das als ein wirklich schönes Märchen, meinte aber, dass man – wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht – sehen müsse, dass das in der nahen Zukunft nicht möglich sein wird. Aber: ja, es ist dennoch richtig, Abkommen mit arabischen Staaten zu erzielen. Und es ist auch richtig, dafür Konzessionen zu machen. Im Fall von Ägypten und Jordanien hat das geholfen – und die Tatsache, dass man nicht alle paar Jahre einen Krieg mit diesen Ländern führen musste, hat sehr zum Erfolg der israelischen Gesellschaft beigetragen. Aber so etwas funktioniert nur so lange, wie die Führer, die mit Israel Frieden schließen wollen, ihren eigenen Völkern erklären können, dass Israel viel stärker ist und auch bereit ist, stark zu reagieren. Abschreckung ist zu 100 % der Grund dafür, dass es heute keinen Krieg gibt. Und wenn diese funktioniert, dann kann und soll man auch nett zu seinen Nachbarn sein und ihnen helfen. Aber man muss sich in dieser Situation immer darüber im Klaren sein, dass jederzeit jemand versuchen kann, seine Ziele durch Krieg oder Terrorismus zu erreichen – und dann muss man ihm unmissverständlich klar machen, dass er sich das nicht leisten kann. Das bedeutet in der Konsequenz, dass Israel nicht das tun kann, was die Europäer von ihm verlangen und was diese für nett halten. Denn wenn Israel das täte, hätte es überall Krieg. Und so muss es die Balance zwischen der Stärke nach außen und der Weichheit nach innen immer aufrechterhalten. Jeden Tag aufs Neue, denn jeden Tag gibt es auch Radikale, die versuchen, die Gesellschaft zu untergraben. Aber Israel darf weder seine Werte noch seine Existenz verlieren – und das ist und bleibt eine große Herausforderung.

Nachdem der Referent über die großen Erfolge Israels gesprochen hatte, kam er nun zu den Schwierigkeiten. Es mag paradox klingen, aber eines der größten Probleme für Israel ist die Schwäche der arabischen Welt. Gäbe es nur Israelis und Araber, wäre das anders, aber es gibt noch ein wichtiges Element in der Region: den Iran. Der Iran ist stark, die Kombination einer barbarischen Führung mit einer starken, beeindruckenden Gesellschaft. „Ich ehre und schätze die
Iraner,“ meinte Schueftan, „leider sind sie im Moment unsere Feinde“. Das iranische Regime nimmt die Schwäche der Araber wahr und kämpft um eine Vormachtstellung im arabischen Raum. Nur Israel kann diese verhindern – und darum ist es nicht nur auf ideologischer, sondern auch auf strategischer Ebene Feind des Iran. Heute versucht der Iran, hunderttausende Raketen rund um Israel aufzustellen, mit denen man jeden Ort in Israel treffen könnte, und keine Luftverteidigung dieser Welt könnte verhindern, dass Hunderte dieser Raketen pro Stunde auf Tel Aviv fallen. Genau das versucht Israel zu verhindern: War es vor zwei Jahren noch israelische Strategie, einem Krieg möglichst aus dem Weg zu gehen und alles zu vermeiden, was einen Krieg provozieren könnte, hat sich das nun grundlegend geändert. Israel ist entschlossen, die Pläne des Iran zu vereiteln. Und sollte das zu einem Krieg führen, wäre es besser, ihn jetzt zu führen als in fünf Jahren. Hätten die Engländer und Franzosen 1934/35 diese Einstellung gehabt, wäre der Zweite Weltkrieg vermeidbar gewesen, denn man hätte Hitler in einem begrenzten Krieg vernichten können. Und tatsächlich ist ein Krieg manchmal die beste Möglichkeit, um einen Krieg zu verhindern. Ließe man den Iran weitere fünf Jahre gewähren, wäre er in der Lage, Israel großen Schaden zuzufügen. Der Iran – so erklärte Dan Schueftan – will seine Kernwaffen nicht haben, um Israel zu zerstören, das wäre eine sehr primitive Annahme. Der Iran will Kernwaffen, damit ihm niemand mehr etwas anhaben kann. Dann würden die Israelis das Risiko scheuen, die iranische Hegemonisierung des Nahen Ostens zu durchkreuzen und dann würde Europa starken Druck auf Israel ausüben, damit es den Iran gewähren ließe. Das würde Israel natürlich nicht tun, wie der Referent versicherte, aber das ist die große Herausforderung, vor der Israel heute steht. Die Attacken der Barbaren in Gaza spielen keine wirkliche Rolle und sind unwichtig. Maßgeblich ist, was zwischen dem Iran und Israel geschieht.

Professor Schueftan beendete seinen Vortrag mit einer Betrachtung der israelischen Innenpolitik. Ähnlich wie auch in Europa funktioniere die israelische Politik nicht optimal. Auf der einen Seite sei die israelische Gesellschaft sehr gespalten, auf der anderen Seite aber auch in einer wunderbaren Situation: es gibt im Parlament eine winzige Linke, eine etwas größere Rechte, praktisch keine Radikalen und mit zwei Dritteln ist die Mehrheit der Gesellschaft in der Mitte des politischen Spektrums. In den letzten drei Wahlkämpfen wurde nicht eine einzige substanzielle Frage gestellt, sondern Fragen wie: „wer ist ekelhafter“, „wer ist der größere Idiot“ und „wen können wir weniger leiden“. Alles in allem gibt es aber eine große Übereinstimmung über den Umgang mit den Palästinensern, die Wirtschaft und die Gesellschaft. Auf diese Weise können die Israelis das tun, was sie wollen – und sie müssen ihre Politiker nur dazu zwingen, so zu sein wie die israelische Gesellschaft das braucht.

Den Vortrag schloss Dan Schueftan mit einem Witz, der ganz praktisch erklärt, wie Israel funktioniert:

Eines Tages entscheidet der Herr, dass die Menschheit zu schlecht ist und dass eine zweite Sintflut kommen soll, diesmal aber ohne Arche. Er ruft die Repräsentanten der drei monotheistischen Religionen zu sich und sagt ihnen, dass in zwei Wochen alles vorbei ist. Der Christ geht zu seiner Gemeinde und sagt „Wir haben gesündigt, wir müssen beten und Gutes tun. Vielleicht hilft es.“ Der Muslim sagt zu seinen Leuten „Wir waren perfekt, jetzt sind wir zwei weitere Wochen perfekt und alles wird gut.“ Der Jude geht zu seinem Volk und sagt „Wir haben jetzt zwei Wochen Zeit, um zu lernen wie man unter Wasser lebt.“