Im Schnellzug aus der Hölle – Porträt unseres Mitglieds Pavel Hoffmann

„Ich weiß nicht, wer mein Schutzengel im Lager war“, sagt Pavel Hoffmann.

(Foto: Andreas Reiner, Berner Bundesarchiv)

Im Februar 1945 spielen sich im KZ Theresienstadt seltsame Szenen ab: 1200 inhaftierte Juden stehen mit Handgepäck am Bahnsteig, der Lagerkommandant hält eine Abschiedsrede, dann treten die ratlosen Passagiere ihre von Himmler befohlene Fahrt in die Freiheit an. Mit an Bord: das Waisenkind Pavel Hoffmann.

Von Robin Szuttor

(Erschienen am 14. September 2018 in der Stuttgarter Zeitung, hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der StZ.)

Am Nachmittag des 5. Februar 1945 nimmt im KZ Theresienstadt eine schier unglaubliche Geschichte ihren Lauf. Normalerweise werden hier alle zwei Wochen Hunderte Häftlinge in Waggons getrieben und wie Vieh zu den Gaskammern der Vernichtungslager gekarrt. Doch dieses Mal sind die Weichen anders gestellt. Freundliche SS-Männer begleiten 1200 Juden auf ihrer Reise in den Süden via Nürnberg bis zum Bodensee. Im Schnellzug durch das zerstörte Deutschland. Freie Fahrt für KZ-Gefangene.

„Sie werden jetzt entlassen aus dem Deutschen Reich“, heißt es an der Grenze. Die Passagiere sollen ihre aufgenähten gelben Sterne von den Kleidern entfernen. Die Frauen bekommen Lippenstift ausgeteilt, die Männer rasieren sich. Frisch herausgeputzt für die Freiheit fahren sie mit der Schweizer Bahn nach St. Gallen. An Bord ist auch der sechsjährige Pavel Hoffmann.

Die Vollwaise überlebte Theresienstadt zwei Jahre. „Die meisten Kinder des Lagers landeten in Auschwitz. Wer mein Schutzengel war, der mich so lange davor bewahrte, weiß ich nicht“, sagt Hoffmann heute. Auch wer ihn in die Passagierliste des Zugs eingetragen hat, ist ein Rätsel geblieben.

Das Museum Jüdischer Betsaal in Horb erzählt die Geschichte vom Sonderzug in die Freiheit und die Geschichten seiner Reisenden jetzt in einer Ausstellung. Ein Foto zeigt Pavel Hoffmann kurz nach der Ankunft mit einer Schiefertafel um den Hals, darauf ist mit Kreide die Nummer 178 geschrieben. Er hat Tuberkulose. Der Schweizer Arzt, der ihn untersucht, notiert dazu: „Spricht seit drei Tagen kein Wort.“

Nach dem Tod seiner Mutter ist Pavel allein in Theresienstadt

Pavel Hoffmann wird 1939 in Prag in den Krieg hinein geboren. „Mit dem Attentat auf Reinhard Heydrich 1942 fängt das Schicksal unserer Familie an, sich zu erfüllen“, sagt er. In einer Vergeltungsaktion ermorden die Nazis mehr als tausend Repräsentanten jüdischer und tschechischer Kultur. Pavels Vater ist einer von ihnen. Nach drei Tagen erhält die Familie den Totenschein zugestellt: „Der Hoffmann, Hans, wurde gemäß Urteil des Standgerichts Prag am 11. Juni 1942, 19 Uhr, erschossen. Der Tod trat sofort ein.“ Unterschrieben vom Oberstabsarzt der Polizei. Drei Monate später finden Pavels Großeltern in Auschwitz den Tod. 1943 wird der vierjährige Pavel mit seiner Mutter nach Theresienstadt deportiert. Kurz darauf stirbt sie.

Pavel Hoffmann hat fast keine Erinnerungen an seine Zeit im KZ. Da sind nur drei Streiflichter. Das erste: Es ist kalt und dunkel. Er steht zusammen mit sehr vielen Leuten sehr lange draußen im Regen. Er hat Angst. Heute weiß Hoffmann: „Weil zwei Häftlinge geflohen waren, mussten damals alle 50.000 KZ-Insassen 24 Stunden strafstehen. Einige starben dabei.“

Zweite Erinnerung: Viele Kinder in seinem Trakt bekommen Plüschtiere ge- schenkt. Er nicht. Er hätte auch gern eines. Am nächsten Morgen sind die Kinder mit den Kuscheltieren weg. „Sie kamen höchstwahrscheinlich in ein Vernichtungslager.“

Dritte Erinnerung: eine Gruppe neuer Kinder. So viele hat Pavel noch nie auf einmal gesehen. Sie sind sehr schmutzig. Es sind, wie er später herausfindet, die Bialystok-Kinder, genau 1264 an der Zahl, zwischen sechs und 15 Jahre alt, alle aus dem Ghetto Bialystok. Sie treffen am 24. August 1943 im Lager Theresienstadt ein. Am 7. Oktober 1943 werden sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz vergast.

Nur diese diffusen Bilder hat er aus erster Hand. Alles, was er heute über seine Kindertage im KZ weiß, hat er sich erarbeitet. Auch eine Dokumentation der Pädago-gischen Hochschule St. Gallen half ihm dabei. Ein Team um Heinz Högerle vom Rexinger Synagogenverein nahm den Schweizer Report jetzt als Ausgangspunkt für die Ausstellung. Högerle sprach mit Professoren, las im Berner Staatsarchiv Dossiers, die über jeden geretteten Theresienstadt- Häftling erstellt wurden. Hoffmann wusste gar nicht, dass eine Akte über ihn existierte.

Der Schweizer Politiker Musy macht einen Deal mit Himmler

Hinter der Befreiungsaktion stehen Recha und Isaac Sternbuch, ein jüdisches Fabrikantenehepaar aus St. Gallen, das stark in der internationalen Fluchthilfe vernetzt ist. Die Schlüsselfigur für ihren Plan: Jean-Marie Musy, von 1919 bis 1934 Schweizer Bundesrat der Katholisch-Konservativen, bekannt als Faschisten-Sympathisant und Kommunistenhasser. Er soll mit seinen guten Kontakten zu Nazi-Deutschland den Deal mit den Freiheitszügen einfädeln.

Musy trifft sich zweimal mit Heinrich Himmler, den er schon aus Vorkriegszeiten kennt. Dass Musy humanitäre oder christliche Motive hegt, bezweifeln die Schweizer Historiker. Er erhält von den Sternbuchs 160.000 Franken für seine Vermittlungen.

Heinrich Himmler, Reichsführer SS, hat im zerfallenden Dritten Reich wohl ein Interesse daran, seinen Ruf bei den Westalliierten zu verbessern. Der Judentransport in die Schweiz, das zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Aktion, soll eine Art Goodwill-Tour starten. Anfangs fordert Himmler als Gegenwert für die Freilassung Traktoren, Lastwagen, Maschinen. Im Lauf der Verhandlungen besteht er darauf, dass fünf Millionen Franken auf einem Schwei- zer Konto deponiert werden. Man einigt sich. Wöchentlich sollen 1200 KZ-Juden in die Schweiz ausreisen. Doch Hitler erfährt vom Handel. Er zürnt heftig und schiebt dem Ganzen einen Riegel vor. So bleibt es bei dem einem Zug mit Pavel an Bord.

Was tun mit dem Waisenkind? Eine Kommission der Juden beratschlagt sich nach der Ankunft in St. Gallen. Ein junges tschechisches Ehepaar will sich seiner annehmen und beantragt schließlich die Adoption. Doch dazu kommt es nicht, denn das Rote Kreuz kann einen Onkel und eine Tante Pavels ausfindig machen. Die Nachkriegsbilanz: Seine Familie väterlicherseits haben die Nazis komplett ausgelöscht. Von der Familie der Mutter sind vierzig Menschen ermordet, nur zwei leben noch.

Der Onkel nimmt den Jungen zu sich nach Prag. Zuerst führt er Pavel ins verlas- sene Elternhaus. Er kennt seinen Neffen ja nicht und will herausfinden, ob er überhaupt der richtige ist. Der Junge zeigt die alte Eiche, unter der er immer mit Oma spielte. Das reicht als Beweis. „Es war kein einfaches Leben mit ihm“, sagt Hoffmann. „Er war traumatisiert, er verlor seinen zweijährigen Sohn in Auschwitz.“

Den Onkel hält es nicht lange in Prag, dann siedelt er in die USA über. Pavel gibt er in die Obhut der Tante. Ein slowakischer Schmied hatte sie vor den Nazis gerettet, die junge Frau bis Kriegsende in seinen Keller eingemauert, nur ein Loch gelassen, gerade groß genug, um Essen hinein- sowie den Eimer für die Notdurft rauszureichen.

Die Tante lotst Pavel durch seine gefestigte Rest-Kindheit. „Ich glaube, ich gehöre zur glücklichen Generation der Überlebenden, die als Kinder im KZ waren und es unterbewusster miterlebten.“ Mit 17 macht er Abitur, studiert an der Technischen Hochschule Prag. Mit 21 ist er Ingenieur für Nachrichtentechnik. Mit 22 heiratet er, mit 23 kommt die erste Tochter zur Welt, bald die zweite. In der Dubcek-Ära der Öffnung darf er ein Praktikum in Deutschland machen. Dann wird der Prager Frühling niedergeschlagen, die Hoffmanns gehen nicht zurück. Seit 1971 leben sie in Reutlingen.

Im Alter von 50 Jahren besucht er zum ersten Mal die Gedenkstätte

Er kümmert sich lange nicht um seine Ver-gangenheit. Die Familie, der Beruf haben Vorrang. Er schaut nach vorne, nicht zurück, muss eine Zukunft aufbauen. Pavel Hoffmann zeigt ein Foto mit seinen Töchtern, den Schwiegersöhnen, den vier Enkeln und seinem Urenkel. „Die Nazis haben es nicht geschafft, uns auszurotten.“

Mit 50 besucht er zum ersten Mal Theresienstadt. Im Lagerverzeichnis entdeckt er seinen Namen und den seiner Mutter. Das macht etwas mit ihm. Er fängt an nachzuforschen. Zu spät, wie er sagt. Die meisten überlebenden Augenzeugen sind inzwischen tot. Vielleicht hat er aus Selbstschutz vieles von sich weggeschoben. „Vielleicht konnte ich es auch besser verarbeiten, weil ich meinem Vater ähnlich bin, der immer positiv dachte.“ Doch das Thema wird immer bestimmender im Alter. Hoffmann geht der Geschichte auf den Grund.

Unter den Häftlingen in Theresienstadt befinden sich damals etwa 15.000 Kinder, die getrennt nach Geschlechtern und Jahrgängen untergebracht sind. Die Häftlingsselbstverwaltung versucht, besonders gut für sie zu sorgen. Auch Pavel bekommt wohl eine bessere Verpflegung, dafür werden die Rationen und Überlebenschancen der älteren Menschen im Lager kleiner.

Am 3. Februar 1945 gibt es einen Aushang: Ein Transport wird Theresienstadt Richtung Schweiz verlassen. Wer auf der Liste steht, soll melden, ob er teilnehmen möchte. Es folgt große Unruhe im Lager: Eine Falle oder die Rettung? Viele trauen der Sache nicht und weigern sich zu fahren. Pavel steht auf der Liste, obwohl Häftlinge, deren Verwandte in Konzentrationslagern umkamen, nicht mitdürfen. Man will keine zu tief verbitterten Reisenden.

Am 5. Februar 1945, einem Montag, ist Abfahrt. Der Lagerkommandant hält noch eine kleine Abschiedsrede und ermahnt die Häftlinge, nicht schlecht über das Lager zu reden. Am Morgen des 6. Februar erreicht der Zug Eger, fährt weiter via Augsburg, Ulm bis Petershausen bei Konstanz. Am nächsten Morgen passieren sie die Grenze und steigen in Kreuzlingen in zwei Sonderzüge, am Nachmittag erreichen sie St. Gallen. Die Nazis haben ihnen reichlich Wegzehrung mitgegeben: unter anderem vier Kilo Brot, einen Hefestriezel, zwei Buchteln und 250 Gramm Ovomaltine für jeden – ein Hohn, wenn man die ausgemergelten Gestalten aus dem Zug schleichen sieht.

Die Nazipropaganda verklärte das Lager zum Musterghetto

„Ich werde euch viel zumuten“, sagt Pavel Hoffmann, wenn er heute vor Schulklassen spricht. „Aber ihr werdet nie mehr einen Zeitzeugen treffen. Und ich glaube, es ist sinnvoll, einem wie mir zuzuhören.“

Antisemitismus scheine zu der DNA Europas zu gehören, sagt Hoffmann. „Ein wehrhafter Jude ist für viele nach 2000 Jahren in der Opferrolle unerträglich. Juden sollen Opfer bleiben, die sich berauben und vertreiben lassen. Der Antisemit von heute gedenkt feierlich der Auschwitzopfer, möchte aber zugleich dem Iran das Recht auf eine Atombombe zugestehen.“

Hoffmann geht mit seiner Lebensgeschichte in die Öffentlichkeit, um die Erin- nerung an seine Familie hochzuhalten und den „bösartigen Vorurteilen“ entgegenzutreten. In den Klassen, die er besucht, hätten neunzig Prozent der Schüler noch nie etwas Positives über Israel gehört, sagt er. „Erst wenn Jude kein Schimpfwort mehr ist und so normal klingt wie Norweger oder Spanier, ist die Sache bereinigt.“

In einem Propagandafilm verklärten die Nazis das KZ Theresienstadt zum Alters- ghetto und Musterlager. Die Wirklichkeit sah so aus: In Theresienstadt wurden bis zum Kriegsende 33.000 Menschen ermordet. Fast dreimal so viel wurden von hier aus nach Auschwitz, Sobibor, Treblinka deportiert, wo der Tod wartete. Auf Pavel, den Jungen aus Prag, wartete das Leben.

Die Ausstellung „Flüchtiges Glück“ ist bis 14. Oktober zu sehen im Museum Jüdischer Betsaal, Fürstabt-Gerbert-Straße 2, in Horb. Dort hält Pavel Hoffmann am 21. September, 19.30 Uhr, einen Vortrag. Der Eintritt ist frei.

Nähere Informationen unter www.ehemalige-synagoge-rexingen.de